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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 25.3.1972
Von der Renaissance zur Gegenwart
Nagolder Kirchenchor profiliert sich - Uraufführung von Gerhard Kaufmann

Nagold. Daß nur rund 150 Musikfreunde am Samstag die Abendmusik in der evangelischen Stadtkirche sich anhörten, wird Kantor Gerhard Kaufmann und seinen Kirchenchor ganz gewiß nicht entmutigen im Bemühen, künstlerisch so anspruchsvolle Programme zu erarbeiten wie das letzte, mit einem Querschnitt durch 350 Jahre Musikgeschichte.
Wie eng die Verwandtschaft zeitgenössischer Tonkunst mit den großen Vorbildern der Vergangenheit ist, zeigte die Orgelfantasie in G von Jan Pieterszoon Sweelinck, die sich aus einem einzigen Motiv in rhythmischen Varianten fortspinnt. Die einzelnen Phasen dieses mehr statischen Geschehens mühte sich Gerhard Kaufmann in verschiedenen Registrierfarben darzustellen. Besonders dankbar aber muß man ihm sein, ein nur ganz selten zu hörendes Orgelwerk von Franz Liszt dem Hörer nahegebracht zu haben: das Präludium mit Fuge über das Thema B-A-C-H, 1855 entstanden und fünfzehn Jahre später in Rom noch einmal umgearbeitet. Die Suche nach neuen Klangrealisationen, der Ausbruch aus dem klassischen, einengenden Kompositionsprinzip und die Rückbeziehung zu den alten Meistern wird in den farbigen Modulationen, durchsetzt von rhythmisch ornamentierenden Klangkaskaden, besonders deutlich. Die differenziert eingesetzten Register kamen dieser Absicht entgegen und negierten die landläufige Version vom "Virtuosen", an dessen Stelle schöpferischer Drang und Improvisationsfreude die konstruktive Kontrapunktik und den Zwang zum "strengen Satz" überspielt.
Im Mittelpunkt standen jedoch die in ihrem Charakter auf das Passionsgeschehen eingehenden Vokalwerke. Zunächst die doppelchörige Mottete "Aus der Tiefe ruf ich, Herr, zu dir" von Heinrich Schütz, als Zweitchor mit einem Bläserquartett besetzt. In weiträumig gespannten Themen fand dieses Stück eine eindringliche Wiedergabe. Zu der 1953 entstandenen liturgischen A-cappella-Messe nach dem gregorianischen Ordinarium "de Angelis" von Johann Nepomuk David gab Gerhard Kaufmann eine Einführung in das Kompositionsprinzip, dem der Kanon in verschiedenen Spielarten zugrunde liegt. Das war sicher von Nutzen, vor allem beim "Kyrie", wo sich David konsequent an das gewohnte Verfahren hält, um es dann in den nachfolgenden Teilen (das "Credo" wurde ausgelassen) in bitonale und polytonale Parallelführungen auszuweiten, die im "Sanktus" zu einer starken Verdichtung mit impressiven Klangergebnissen führen. Dank der ausgezeichneten chorischen Leistung und einer akzentuierten Stimmenführung konnte das lineare melodische Geflecht in seinem logischen Zusammenhang erfaßt und begriffen werden.
Gespannt war man natürlich auf die Uraufführung der "Ostersequenz" von Gerhard Kaufmann, die ihm 1970 bei einem Kompositionswettbewerb einen 1. Preis eintrug. Er stellt linear-melodische und statische Reihen neben- und untereinander und erreicht durch Engführungen immer wieder enorme dynamische Steigerungen. Die im bitonalen Bereich hart sich reibenden Intervalle werden gelegentlich überlagert von rezitativen Einschüben oder dem pochenden Klang einer Pauke, der quasi die Ankunft des Todes illustriert. Das ist nicht nur sehr einfallsreich gemacht, sondern erreicht auch eine immer wieder verblüffende Wirkung, deren kraftvoll-lebendige Aussage zuweilen fast bestürzt, trotzdem der Chor, noch ungewohnt, sich in so freitonalen Bereichen zu bewegen, bei den Einsätzen oder komplizierten Intonationen zögerte. Doch für den Mut, sich einer so schwierigen musikalischen Aussage hinzugeben, darf man ihm uneingeschränkt ein Kompliment aussprechen. Ebenso aber auch dem Komponisten selbst für seine eindringliche Darstellung seiner schöpferischen Absicht, die, ohne in avantgardistische Spielereien zu verfallen, eine Möglichkeit zeigt, die ständig sich weitenden Klangvorstellungen der Gegenwart verständlich und in konzentrierter Form zu übersetzen.

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